UNE AVANT-GARDE FÉMINISTE. Photographies et performances des années 1970 de la COLLECTION VERBUND, Vienne
Das angesehene Fotografie-Festival Les Rencontres de la Photographie d’Arles zeigt an die 40 Ausstellungen im Sommer in Arles. Dieses Jahr ist die Hauptausstellung „Une Avant-Garde féministe. Photographies et performances des années 1970“ mit über 200 Werken von 71 Künstlerinnen aus der Wiener SAMMLUNG VERBUND. Die „Feministische Avantgarde“-Ausstellung tourt seit zwölf Jahren durch Europa und ist nun erstmals in Frankreich zu sehen.
Mécanique Générale, Parc des Ateliers: 35, Avenue Victor Hugo. 4. Juli – 25. September 2022 10.00 - 19.30 Uhr
https://www.rencontres-arles.com/en/expositions/view/1045/a-feminist-avant-garde
Aktionistisch, provokativ bis poetisch
„Die Ausstellung macht deutlich, dass die Werke eine Vielheit von Feminismen auffächern: die Werke sind aktionistisch, provokativ, aber auch poetisch. Letzteres war in den 1970er-Jahren zu ‚leise‘, um wahrgenommen zu werden. Heute können wir auch die poetische Qualität der feministischen Kunst wertschätzen,“ so Gabriele Schor, Kuratorin und Gründungsdirektorin der SAMMLUNG VERBUND, Wien.
Warum hat VERBUND seit 18 Jahren eine Kunstsammlung?
VERBUND übernimmt gesellschaftliche Verantwortung und fördert Projekte in sozialen, sportlichen und kulturellen Bereichen. Im Bereich der Kunst entschied sich der Vorstand für ‚Kulturarbeit‘ innerhalb des Unternehmens. „VERBUND begreift sein Engagement für zeitgenössische Kunst als Teil der Unternehmenskultur“, so Michael Strugl, Vorstandsvorsitzender VERBUND. „Der Anspruch der SAMMLUNG VERBUND ist es, künstlerische Positionen, die bisher verborgen waren, zu entdecken und sichtbar zu machen, um eine Spur in unserem kulturellen Gedächtnis zu hinterlassen.“
Warum der Titel „Feministische Avantgarde“?
Ausstellungen der feministischen Kunstbewegung weisen oftmals die Titel „the feminist revolution“ oder „the radical women“ auf. Gabriele Schor prägte den Begriff „Feministische Avantgarde“, weil „Avantgarde“ ein kunsthistorischer Terminus ist. Sie erklärt: „Diese Künstlerinnen schufen erstmalig in der Geschichte der Kunst ein völlig neues ‚Bild der Frau‘ aus weiblicher Sicht. Dieser Pionierleistung der Künstlerinnen gebührt ein Platz im Kanon der Kunstgeschichtsschreibung, der mit dem Begriff „Avantgarde“ gewährleistet wird.“
Neue Medien: Fotografie, Film und Video
Besonders Künstlerinnen kamen die neuen Medien Fotografie, Film und Video entgegen. Sie konnten sich von der männlich dominierten Tradition der Malerei absetzten. Vor allem das historisch unbelastete Medium der Fotografie erlaubte ihnen spontan und räumlich ungebunden ohne eigenes Atelier zu arbeiten. Der Selbstauslöser war stets dabei. Das Badezimmer wurde nicht selten zu einer Dunkelkammer umfunktioniert. Weniger waren technische Aspekte im Vordergrund, vielmehr ging es den Künstlerinnen der Feministischen Avantgarde darum, eine Geschichte zu erzählen, einen narrativen Strang ihren Werken zugrunde zu legen. Deshalb dominieren in der Ausstellung Serien von kleineren Schwarz-weiß-Fotografien. Das Medium Fotografie erfuhr damals noch keine breite Anerkennung angesichts seiner Multiplizierbarkeit, die jenen ein Dorn im Auge war, die an der Idee des Unikats im Sinne der Malerei festhielten.
Das Private ist politisch
Vor dem Hintergrund der 1968er-Studentenbewegung, den Bestrebungen, überkommene moralische Werte der Kriegsgeneration zu überwinden, sowie der ‚sexuellen Revolution‘ entstand in westlichen Ländern eine zweite Welle der Frauenbewegung. Frauen erkannten, dass ihre Probleme aufgrund gegebener Macht- und Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft entstehen und nicht ‚persönlicher‘ Natur sind. Gegen die gesetzliche Diskriminierung, wonach der Mann als Familienoberhaupt weitreichende familiäre Entscheidungen allein treffen konnte, lehnten sich Frauen in westlichen Ländern auf. Sie forderten „private“ Angelegenheiten öffentlich zu diskutieren – wie Familienrecht, Ehe, unbezahlte Reproduktionsarbeit, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, Scheidung sowie Gewalt gegen Frauen.
Die Schau gliedert sich in fünf Bereiche
1. Das Aufbegehren gegen die Zuschreibung ausschließlich als „Mutter, Hausfrau und Ehefrau“ wahrgenommen zu werden. Birgit Jürgenssen hängt sich einen Herd über ihren Körper und steckt einen Laib Brot in den Ofen. Eine Anspielung an die Redewendung „einen Braten in der Röhre haben“, was so viel bedeutet wie schwanger sein. 2. Das Gefühl „Eingesperrt-zu-Sein“ und aus dieser eindimensionalen Rolle ausbrechen zu wollen. Sonia Andrade umwickelt ihr Gesicht dicht mit einem Faden. Annegret Soltau und Renate Eisenegger umwickeln ebenfalls ihr Gesicht so stark, dass beide nicht mehr sehen und sprechen konnten. Doch während Soltau mit der Schere den Faden durchschneidet und die Möglichkeit der Befreiung aus dem Patriarchat kommuniziert, verharrt Eisenegger regungslos. Interessant ist, dass sowohl die brasilianische Künstlerin als auch die beiden deutschen Künstlerinnen ähnliche Werke schufen, ohne sich untereinander gekannt zu haben. 3. Das Aufbegehren gegen das „Diktat der Schönheit“ und der „Einsatz des weiblichen Körpers“. Katalin Ladik und Ana Mendieta, drücken beide ihr Gesicht gegen eine Glasscheibe und deformieren ihre Nase und ihre Lippen, um die Vorstellung, eine Frau hat nett und adrett zu sein, zu unterlaufen. Beide kannten das Werk der anderen Künstlerin nicht. Meistens setzen die Künstlerinnen ihren eigenen Körper für die Werke ein. Mit der Darstellung des weiblichen Körpers erobern sich die Frauen ein Terrain, das Jahrhunderte lang dem Mann, den Künstlern, vorbehalten war. 4. Das Ausloten „weiblicher Sexualität“. Penny Slinger steckt ihren Körper in eine Hochzeitstorte, spreizt ihre Beine und collagiert auf ihre Vulva ein Auge und nennt ihre Fotocollage ICU, Eye Sea You, I See You. Damit verabschiedet sie den Objektstatus der Frau und macht deutlich, Frauen bekennen sich aktiv zu ihrer Sexualität und wollen als Subjekte wahrgenommen werden. Überraschend war, zu entdecken, dass auch Annegret Soltau ein Auge auf ihre Vulva platzierte. 5. „Rollenspiele und Identität.“ Schon die französische Philosophin Simone de Beauvoir erklärte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Konstruktion von Weiblichkeit hervorbringen. Viele Künstlerinnen untersuchten mit ihren Rollenspielen, was es bedeutet, in den 1970er-Jahren eine Frau zu sein. Mit Schminke, Perücke und dem Spiel der Mimik verkleideten sich die Künstlerinnen und entlarvten so Stereotypen und Klischees. Etwa die amerikanischen Künstlerinnen Martha Wilson, Suzy Lake, Lynn Hersman Leeson oder Cindy Sherman. Spannend ist zu sehen, dass auch die weniger bekannte italienische Künstlerin Marcella Campagnano sehr ähnliche Inszenierungen zur selben Zeit schuf. Besonders Women of Colour waren in den 1970er-Jahren einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt wie Rassismus, Klasse und Gender. Ihre Werke sprechen deutlich Intersektionalität an, bevor Kimberlé Crenshaw 1989 diesen Begriff prägte. So etwa die peruanisch-afrikanische Aktivistin und Choreografin Victoria Santa Cruz, die ihre persönlichen Erfahrungen der Diskriminierung in ihrer Video-Performance Victoria. Black and Woman (1978) eindrucksvoll vorführt. Ähnlich gehen Howardena Pindell und Emma Amos vor. Lorraine O’Grady prangert in ihrer Foto-Performance Mlle Bourgeoise Noire ihre Schwarze Community an, sie sollen sich künstlerisch nicht an die Vorgaben weißer Kurator:innen halten, sondern selbständig ihre Kunst hervorbringen. Der Hinweis im Titel auf „eine“ Avantgarde bezieht sich auf die Vielzahl feministischer Bewegungen hinsichtlich Nationalität, Kultur und Generation.
71 Künstlerinnen
Helena Almeida, 1934–2018 PT | Emma Amos, 1938-2020 USA | Sonja Andrade, 1935 BRA | Eleanor Antin, 1935 USA | Anneke Barger, 1939 NL | Lynda Benglis, 1941 USA | Renate Bertlmann, 1943 AT | Tomaso Binga, 1931 IT | Dara Birnbaum, 1946 USA | Marcella Campagnano, 1941 IT | Elizabeth Catlett, 1915-2012 USA | Judy Chicago, 1939 USA | Veronika Dreier, 1954 AT | Orshi Drozdik, 1946 HU|USA | Lili Dujourie, 1941 BE | Mary Beth Edelson, 1933 USA | Renate Eisenegger, 1949 DE|CH | VALIE EXPORT, 1940 AT | Esther Ferrer, 1937 ES | Marisa González, 1945 ES | Eulàlia Grau, 1946 ES | Barbara Hammer, 1939-2019 USA | Lynn Hershman Leeson, 1941 USA | Alexis Hunter, 1948–2014 NZ|UK | Mako Idemistu, 1940 JP|USA | Birgit Jürgenssen, 1949–2003 AT | Kirsten Justesen, 1943 DNK | Anna Kutera, 1952 PL | Ketty La Rocca, 1938–1976 IT | Leslie Labowitz, 1946 USA | Suzanne Lacy, 1945 USA | Katalin Ladik, 1942 SRB|HU | Suzy Lake, 1947 USA|CAN | Natalia LL, 1937 PL | Lea Lublin, 1929–1999 PL|FR | Karin Mack, 1940 AT | Dindga McCannon, 1947 USA | Ana Mendieta, 1948–1985 CU|USA | Annette Messager, 1943 FR | Rita Myers, 1947 USA | Senga Nengudi, 1943 USA | Lorraine O’Grady, 1934 USA | ORLAN, 1947 FR | Gina Pane, 1939–1990 FR | Leticia Parente, 1930-1991 BRA | Ewa Partum, 1945 PL|DE | Friederike Pezold, 1945 AT | Margot Pilz, 1936 NL|AT | Howardena Pindell, 1943 USA | Ingeborg G. Pluhar, 1944 AT | Angels Ribé, 1943 ES | Ulrike Rosenbach, 1943 DE | Martha Rosler, 1943 USA | Brigitte Aloise Roth, 1951–2018 AT | Victoria Santa Cruz, 1922–2014 PER | Suzanne Santoro, 1946 USA|IT | Carolee Schneemann, 1939–2019 USA | Lydia Schouten, 1955 NL | Elaine Shemilt, 1954 USA | Cindy Sherman, 1954 USA | Penny Slinger, 1954 UK | Annegret Soltau, 1946 DE | Gabriele Stötzer, 1953 GDR|DE | Betty Tompkins, 1945 USA | Regina Vater, 1943 BRA | Marianne Wex, 1937-2020 DE | Hannah Wilke, 1940–1993 USA | Martha Wilson, 1947 USA | Francesca Woodman, 1958–1981 USA | Nil Yalter, 1938 EG|FR | Jana Želibská, 1941 SLOV
Neu erschienene Publikation zur Ausstellung
UNE AVANT-GARDE FÉMINISTE
Photographies et performances des années 1970 de la Collection Verbund
Gabriele Schor
Erschienen bei delpire & co
496 Seiten / Französisch
ISBN 9791095821489
EUR 62,00
https://delpireandco.com/produit/une-avant-garde-feministe/
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SAMMLUNG VERBUND, Wien
Die SAMMLUNG VERBUND wurde 2004 vom Vorstand des österreichischen Energiekonzerns VERBUND in Wien gegründet. Ihr Bestand umfasst mehr als 873 Kunstwerke von 172 Künstlerinnen und Künstlern.