Die Ausstellung ORLAN. SIX DECADES in der Vertikalen Galerie der SAMMLUNG VERBUND.
ORLAN. SIX DECADES in der Vertikalen Galerie
Die SAMMLUNG VERBUND zeigt die erste Ausstellung der renommierten französischen Künstlerin ORLAN in Österreich und publiziert dazu die erste deutschsprachige Monografie zu ihrem Werk.
In den 1990er-Jahren erregte ORLAN mit den chirurgischen Performance-Eingriffen an ihrem Körper großes Aufsehen. Ihr Frühwerk blieb hingegen nahezu unbekannt. Die rund 50 Kunstwerke umfassende, retrospektive Schau ORLAN. SIX DECADES in der Vertikalen Galerie legt daher den Fokus auf die 1960er- und 1970er-Jahre und spannt gleichzeitig einen Bogen zu aktuellen Arbeiten.
Das Werk von ORLAN, 1947 in Saint-Étienne geboren, umfasst sechs Jahrzehnte. Es gibt kaum eine Künstlerin, die sich so radikal der Öffentlichkeit ausgesetzt hat. Ihre Performances reflektieren kulturelle, politische und gesellschaftliche Bedingungen, unter denen sich der weibliche Körper zu behaupten hat.
Bereits als 17-Jährige schafft sie 1964 die für ihre künstlerische Laufbahn wichtige Fotografie ORLAN accouche d’elle-m’aime (ORLAN gebiert ihr geliebtes Selbst). ORLAN inszeniert sich gleichzeitig als Subjekt und als Objekt. Sie gebiert eine zweite Gestalt, ihr künstlerisches Selbst und bestimmt somit ihre neue Identität. Diese inszenierte Fotografie versteht ORLAN, wie sie selbst sagt, als einen „Wendepunkt in meinem Leben“. Sie erschafft sich selbst, widerspricht der Vorstellung, eine Frau muss Ehefrau und Mutter sein, und beginnt ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was es bedeutet, sich selbst Wertschätzung entgegenzubringen, eine Vorstellung, die Frauen in dieser Zeit öffentlich selten bis gar nicht zugestanden wurde. Das Gefühl als Frau in gesellschaftlichen Konventionen zu verharren und daraus ausbrechen zu wollen, teilt ORLAN mit vielen Künstlerinnen der Feministischen Avantgarde. Der Wunsch das vorgegebenen Normensystem zu überwinden, zeigt sich auch in ihrer Fotografie Tentative de sortir du cadre (Versuch, dem Rahmen zu entkommen) von 1966. Das Werk ist ein starkes Statement: sie tritt mit ihrem ganzen Körper aus einem historischen Bilderrahmen hervor. Mit ihrem rebellischen Willen bekundet ORLAN ihr Vorhaben, die kunstgeschichtliche Tradition zu überwinden und neue Wege einzuschlagen. Sprichwörtlich aus dem Rahmen zu fallen, wird nun programmatisch für ihre Kunst. In diesen Jahren experimentiert ORLAN unkonventionell und eindrucksvoll mit dem weiblichen Körper als Skulptur (Serie Corps-sculptures).
In den 1970er-Jahren vollzieht sie den Bruch mit dem ihr gegebenen Namen. Sie behält die Silbe „OR“, im Französischen bedeutet es Gold, und fügt „LAN“ hinzu. Ihr selbst gewählter Name, ausschließlich in Versalien geschrieben, lässt sich keinem bestimmten Geschlecht mehr zuordnen. In den 1970er-Jahren entstehen wegweisende Aktionen:
Ab 1974 MesuRAGE (WUTmessung), ORLAN vermisst mit ihrem eigenen Körper öffentliche Institutionen und Plätze, wie 1974 den Vatikan in Rom. Es folgen u.a. MesuRAGE 1977 im Centre Pompidou in Paris, 1983 im Guggenheim Museum in New York und 2012 im Andy Warhol Museum in Pittsburgh. ORLAN verhandelt den weiblichen Körper nicht mehr länger als privates Phänomen, sondern behauptet ihn als öffentliche Präsenz und bietet einer männlich dominierten Kultur die Stirn. 1976 verkauft sie in ihrer Aktion Se vendre sur les marchés en petits morceaux (Sich auf dem Markt in kleinen Stücken verkaufen) Teile ihres Körpers wie Arm, Ohr oder Brust auf einem Markt „ohne Konservierungsstoffe und mit Reinheitsgarantie“ und thematisiert humorvoll die von der Kirche geforderte Jungfräulichkeit und die Problematik der Käuflichkeit von Frauenkörpern.
In ihrer Performance Le Baiser de l’Artiste (Der Kuss der Künstlerin), in der sie 1977 auf der Kunstmesse FIAC im Pariser Grande Palais für 5 Francs einen Kuss zum Verkauf anbietet, prangert ORLAN zwei Stereotype an, denen Frauen immer wieder ausgesetzt sind: die Heilige und die Prostituierte. Le Baiser de l’Artiste zählt zu den mutigsten künstlerischen Aktionen des 20. Jahrhunderts und löst einen Skandal aus, woraufhin die Künstlerin angefeindet wird, ihre Anstellung als Lehrende verliert und plötzlich ohne Einkommen ist.
ORLAN setzt sich mit der traditionellen Darstellung der Frau in der bildenden Kunst auseinander, die Teil unseres kulturellen Bewusstseins ist und hinterfragt den Kanon der Kunstgeschichte, wie etwa in der Fotografie ORLAN en Grande Odalisque d’Ingres (ORLAN als große Odaliske im Stil von Ingres) von 1977, oder mit Abwandlungen der Geburt der Venus von Botticelli.
Gabriele Schor, Kuratorin und Gründungsdirektorin der SAMMLUNG VERBUND erklärt: „ORLANs Frühwerk reflektiert radikal die Stellung der Frau in der Gesellschaft und hinterfragt die Darstellung des weiblichen Körpers in der traditionellen Kunst. Das Frühwerk macht deutlich, dass die Künstlerin eine herausragende Repräsentantin der Feministischen Avantgarde ist, deren Anliegen es ist, das sogenannte „Private“ als eine politische Kategorie zu verhandeln.“
In den 1980er-Jahren beschäftigt sich ORLAN intensiv mit der Epoche des Barocks. Inspiriert von Lorenzo Bernini inszeniert sie sich als Madonna in unterschiedlichen Posen und erschafft imposante Faltenskulpturen. Vor dem Hintergrund barocker Licht- und Schatteneffekte, der Verbindung von Skulptur und Architektur sowie üppiger Faltenwürfe verdeutlicht ORLAN die Dualität von Gut und Böse als Sinnbild des Barocks. Zeitgleich arbeitet sie mit den neuesten technologischen Errungenschaften und so entstehen mit Aufkommen des Kopierers zahlreiche farbenfrohe Collagen.
1989 verwandelt sie Gustave Courbets Bild L’Origine du monde in L’Origine de la guerre, indem sie die Vulva durch den Phallus ersetzt.
Mit ihrem Manifest L‘Art Charnel (Fleischeskunst) verfasst ORLAN 1989 die theoretische Grundlage ihrer chirurgischen Performance-Eingriffe, die sie neun Mal von 1990 bis 1993 durchführt. Mit Lokalanästhesie, schmerzfrei und bei vollem Bewusstsein setzt sie ihren eigenen Körper als künstlerisches Material ein: „Ich deformiere mich, um mich zu einer anderen zu reformieren.“ Die chirurgischen Performance-Eingriffe wenden sich nicht gegen ästhetische Chirurgie, sondern gegen ästhetische Normen und Schönheitsideale, die einen Konformismus vorgeben, der sich in weiblichen Körpern manifestiert. ORLAN wirft mit diesen Performances wichtige Fragen auf: Wer gibt vor, wie ein Gesicht, ein weiblicher Körper auszusehen hat? Nach welchen Normen richtet sich unsere Vorstellung von Schönheit? Es geht ihr also darum, selbst zu entscheiden, wie sie aussehen will, und keiner ästhetischen Norm zu erliegen.
Ab den 2000er-Jahren beschäftigt sich ORLAN in ihren Kunstwerken vermehrt mit Themen aus dem Bereich der Biotechnologie und Robotik und nutzt dabei Techniken wie Augmented Reality und Videoanimation. 2013 zeigt sie in einer Videoarbeit ihren gehäuteten Körper als medizinisches Modell, bevor sie 2014 eine Bildserie schafft, aus der mithilfe einer Augmented Reality-App ORLAN-Avatare steigen und in den Ausstellungsräumlichkeiten lebendig werden. 2018 widmet sie sich der Sphäre der künstlichen Intelligenz und entwickelt den sprechenden KI-Roboter ORLAN-oïde.
Die Ausstellung in der Vertikalen Galerie schließt mit Frauenporträts von 2019 ab. In Anspielung an die klassische Darstellung von Frauen als Muse kreuzt ORLAN ihr eigenes Porträt mit Werken von Pablo Picasso und schafft dadurch wütende und weinende Frauenfiguren auf ironisch poppige Art.